Ein häufig bemühter Allgemeinplatz der Geschichtsschreibung besagt, das zwanzigste Jahrhundert sei ein sehr kurzes gewesen. Es habe im Grunde nur von 1914 bis 1989 gedauert. Nun, wenn man so rechnen darf, und was spräche dagegen – schließlich sind gefühlte historische Gezeitenwechsel als temporale Grenzpfosten einer Ära deutlich besser greifbar – dann müsste man vermutlich auch feststellen: Das musikalische Jahrzehnt, dessen Bilanz es zu ziehen gilt, hat eigentlich erst 2004 begonnen.
2004 war das Jahr von Franz Ferdinands Debüt-Album und ihrer Durchbruchssingle Take Me Out, und dieses Album war der Zündfunke eines gigantischen Feuerwerks an neuen, tollen britischen Indie-Bands, die uns in den folgenden Jahren mit teilweise sensationell guter Popmusik beglückten, und das Jahrzehnt musikalisch genauso prägten wie es zehn Jahre vorher, Mitte der Neunziger, die erste Generation des sogenannten „Britpop“ getan hatte.
Denken Sie an Arctic Monkeys, Kaiser Chiefs, Bloc Party, Maximo Park et al. (hier habe ich mich schon Mal etwas ausführlicher zu diesem Thema geäußert).
Das einzige wirklich große Album, dass in meiner intuitiven Wahrnehmung deutlich vor Franz Ferdinand stattgefunden haben müsste, ist The Streets‘ A Grand Don’t Come For Free, aber selbst hier verrät ein prüfender Blick aufs CD-Cover: Erschienen 2004!
Was, verdammte Axt, ist denn passiert, bzw. eben nicht passiert in den Jahren davor?
Irgendwie sind meine spontanen Erinnerungen sehr vage, als handele es sich um drei oder vier vergessene Jahre in meiner musikalischen Biographie. Ich assoziiere Justin Timberlake auf dem Cover der SPEX, kann mich an Eminem auf dem Cover von THE FACE erinnern, beides zumindest unheilschwanger winkende Zaunpfähle aus einer Zeit, die man vielleicht ja zu Recht vergessen hat.
Und tatsächlich: wenn man, geplagt von der eigenen Amnesie, beginnt, ein wenig zu recherchieren, wer denn in diesen ersten Jahren so die Charts bevölkert hat, stößt man auf eine bedrohlich lange Reihe von Namen, bei denen es einen nicht wundert, dass man sie erfolgreich verdrängt hat: Westlife, Britney Spears, Christina Aguilera, Mariah Carey, Blue, Aaliya, All Saints, Atomic Kitten, Will Young, Sugababes, Black Eyed Peas und immer wieder Eminem, Pink und Destiny’s Child.
Fast alles bedenklich hohl und überflüssig.
Ich meine, klar: Britpop war als Hype spätestens 1998 mausetot, die wenigen Überlebenden nur schwerlich unter die Indie-Klammer zu packen (Travis, Coldplay, Embrace), und die einzig verbliebene Konsens-Indieband (Radiohead) wurden plötzlich merkwürdig bis abseitig und begannen das neue Jahrzehnt mit dem schrägen Album Kid A.
Ja, selbst unsere deutschen Vorzeigelieblinge machten plötzlich dieses komische „weiße Album“, und Dirk v. Loffzoff verkündete, sein aktuelles Role-Model sei Brian Ferry! Hallo?
Was zum Teufel war in all diese Leute gefahren?
Und doch übersieht die bisherige Rückschau etwas essentiell wichtiges: Zwar mag es stimmen, dass Franz Ferdinand der Zündfunke des neuerlichen Hypes auf der Insel gewesen sind, aber die eigentliche Pioniertat wurde bereits 2001 in den Vereinigten Staaten vollbracht. Diesmal waren es nämlich tatsächlich Amis gewesen, die die Gitarrenmusik zurück auf die Agenda des Popzirkus gezaubert hatten – und das quasi im Alleingang: The Strokes
Deren Debüt-Album Is This It? ist die wahre Stunde Null der vergangenen Musikdekade.
Ohne den Einfluss und den alle mitreißenden Appeal dieser fünf New Yorker art-school-kids hätten sich all die oben erwähnten Helden von 2005 vermutlich niemals überhaupt gegründet.
Und obgleich ich selbst nie ein überzeugter Strokes-Fan und erst recht nie ein großer Franz Ferdinand-Fan war, so kann man doch den Einfluss dieser beiden Bands beinahe nicht überschätzen. Danken wir Ihnen für all das Gute, was durch sie erst möglich wurde.
Musik von den Strokes oder Franz Ferdinand zu verlinken ist natürlich ein bißchen wie Eulen nach Athen zu tragen. Aber, da sie schließlich die Schlüsselfiguren des heutigen Blogbeitrags sind, andererseits auch Ehrensache.
Versuchen wir es also mit einem Live-Clip von 12:51, der wunderschönen Single vom zweiten Strokes-Album Room On Fire. Und vergleichen das mit Franz Ferdinands Performance von This Fire auf dem gleichen Festival.
Was ist sonst noch erwähnenswertes passiert in diesen ersten, vermeintlich vergessenen Jahren des Jahrzehnts?
Metal hatte seine letzte große Sternstunde mit System Of A Downs Chop Suey.
Robbie Williams machte mit Escapology sein letztes traditionelles Popalbum (die schöne Single Feel bescherte uns zudem einen äußerst amüsanten, passenderweise smarten, Werbeclip für ein Automobil).
Coldplay begannen ihren weltweiten Siegeszug mit den Alben Parachutes (2000) und A Rush Of Blood To The Head (2002), und wurden die einzige „neue“ britische Band, die auch in Amerika ein Massenpublikum mobilisierte.
Und last but not least veröffentlichte Mike Skinner aka The Streets sein Debüt Original Pirate Material (2002).
Und dann 2004 jenes bereits oben erwähnte A Grand Don’t Come For Free – das beste Album des Jahrzehnts.
Ein triumphaler Gegenwartsroman, eine unwiderstehliche, musikalische Soap-Opera aus dem vergammelten Vorstadtzimmer eines Großstadtjugendlichen, und insbesondere auf dem herausragenden Song Blinded By The Lights, eine dermaßen treffende und hautnahe Reportage aus den Untiefen drogengeschwängerter club-nights in the city – schlicht: ein Meisterwerk.
Und weil es ein Konzeptalbum ist, dass im Grunde auch nur als Ganzes funktioniert, verzichte ich hier auf einen Link. Kaufen Sie sich das Ding halt, wenn Sie nicht zu den Glücklichen gehören, die es schon besitzen.
Im nächsten Beitrag schauen wir dann auf alles, was nach Franz Ferdinand passierte, in den OO-er Jahren.
P.S.:
What? I haven’t mentioned Doggaty?
Well, is there anything to mention?
Ok, The Libertines were looking great. Definitely.
But their music was shite. And Babyshambles were after 2004. Maybe they’ll get a name-check in the next article.
Maybe not…
Also spontan fallen mir zwei sehr gute britische Alben aus den ersten Jahren des Jahrzehnts ein: Gorillaz mit Gorillaz (2001) und Stereo MCs mit Deep Down And Dirty (2001). Die halfen enorm bei der oben genannten Verdrängung von Spears und Konsorten.
Gorillaz gehören in einen Dekadenrückblick, da haben Sie selbstverständlich Recht. (The Good The Bad And The Queen eher nicht, aber das nur am Rande). Bei Stereo MCs muss ich passen – die kenne ich nur von ganz früher. To the left, to the right und so. Werd““ ich aber gleich mal recherchieren.